Klebstoff und ein Mund ohne Hände

Kirsten Mieves
27.09.2012

Als Katharina Raju kennenlernt, lebt er in Kathmandu auf der Straße, schnüffelt Klebstoff und belagert Touristen, auf der Suche nach Essen oder etwas Kleingeld. Er ist etwa 16 Jahre alt. Genau weiß es niemand, denn er wurde als Säugling in den Straßen der Stadt ausgesetzt. Seitdem kam er von Heim zu Heim, von einer Organisation in die nächste. Gelandet ist er schließlich bei den Jungs, die die Straßen von Thamel, einem Stadtteil Kathmandus, bevölkern und Touristen belagern.

Anjali ist neun, als Katharina sie trifft. Ihre Mutter ist tot, der Vater weggelaufen, die Oma liebt sie, aber kann nicht für sie sorgen. Für die entfernten Verwandten, bei denen sie lebt, ist sie nichts weiter als „ein Mund ohne Hände“: sie isst, aber arbeitet nicht. Das Beste, womit Anjali in dieser Situation rechnen kann, ist, bald zwangsverheiratet zu werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie einfach verkauft wird.

Eigentlich wollte Katharina nur eine Weltreise machen und Spaß haben

Als Katharina, eine 25-jährige Dekorateurin aus Berlin, im Januar 2011 zu einer Weltreise aufbricht, möchte sie eigentlich nur Spaß haben, etwas erleben, surfen und in die Berge. Dass die Begegnung mit zwei Kindern aus Kathmandu derart ihr Leben verändern würde, damit hatte sie nicht gerechnet.

Raju trifft sie im Mai 2011. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits eine Zeit lang in Indien und Nepal unterwegs; Kajak fahren und im Nationalpark. In Kathmandu arbeitet sie in einer Schule. Aber lieber als kleinen Kindern das englische ABC beizubringen, verbringt sie Zeit mit den Straßenjungen von Thamel. Kontakt zu ihnen zu bekommen ist nicht schwer, die Kinder belagern die Touristen. „What is your name?“ und „Where are you from?“ sind stets die ersten Fragen, wenn sie neue Gesichter unter ihnen entdecken. Und für jeden haben sie dann ein paar Brocken in seiner Landessprache parat. Das freut die Touristen und macht sie spendabel. Dann gibt es ein paar Nepalesische Rupien oder ein Essen. Katharina gibt den Jungen kein Geld und auch kein Essen aus, denn sie weiß, das hilft ihnen nicht: Das Geld geben sie für Klebstoff aus, das Essen von den Touristen ermöglicht es ihnen wiederum, ihr Geld statt für Essen für Klebstoff auszugeben.

Katharina beschäftigt sich stattdessen mit den Kindern. Zusammen spielen sie Fußball, Karten, Gathi.
Die meisten der Jungen verlieren jedoch bald das Interesse an ihr, sie wenden sich anderen Ausländern zu, denn sie müssen ihren Bedarf decken. Der einzige, der bleibt, ist Raju. Der schmale Junge bittet sie um Hilfe. Raju möchte wieder in die Organisation, aus der er weggelaufen ist. Er bittet Katharina, ihn dorthin zu begleiten; er möchte dort um Entschuldigung bitten, traut sich allein jedoch nicht.

In der Organisation ist für Raju kein Platz

Die Organisation, von Ausländern finanziert, liegt in einer guten Gegend von Kathmandu, sieben bis acht Kinder, schätzt Katharina, haben Platz in dem schönen Haus. Nur ein Kind lebt dort, als sie mit Raju vorstellig wird. Warum, weiß Katharina nicht, sie ist jedoch verwundert, dass keine Kinder dort sind, obwohl es Kapazitäten gibt. Auch Raju wird nicht wieder aufgenommen, so sehr er auch Besserung gelobt und beteuert, dass er runter vom Klebstoff möchte, runter von der Straße und auf die Schule.

Schließlich nimmt Katharina ihn mit. Zunächst zu Freunden, dann bringt sie ihn in einem Zimmer unter, das sie extra anmietet, und sorgt nun für ihn, kauft ihm Essen, Kleidung. Das Geld knapst sie ihrer kleinen Reisekasse ab. Hauptsache Raju kommt runter von der Straße, wo die Jungen Freiwild sind, eingefangen, misshandelt und missbraucht werden, schnell umkommen durch Drogen und Gewalt.

Doch Raju will nicht nur von der Straße runter. Nach einer Weile erzählt er Katharina, dass er zur Schule möchte. Er möchte lernen. Eine Zukunft haben. Katharina ist zunächst vorsichtig. Raju hat wie viele der anderen Jungen bereits verschiedene Versuche unternommen, Hilfe bekommen und ist doch immer wieder auf der Straße gelandet. Ohne Perspektive, aber eben auch ohne Regeln. Denn aus Sicht der Jungen ist das Leben auf der Straße auch immer ein Stück Freiheit; Vorschriften gibt es hier nicht, und die Jungs sind auch ein Stück weit wie eine Familie füreinander. Katharina ist nicht sicher, ob Raju es dieses Mal wirklich ernst meint. Doch Raju bittet sie immer wieder und macht sich nach einigen Wochen schließlich selbst auf die Suche nach einer Schule. Er recherchiert und sucht, bis er die richtige gefunden hat, organisiert alles selber. Katharina ist durch so viel Eigeninitiative und echten Willen schließlich überzeugt: Sie meldet Raju an der Schule an und übernimmt auch die Schulgebühren. Raju ist glücklich und Katharina erstaunt, sich plötzlich in der Verantwortung für einen 16-Jährigen zu befinden. Aber sie ist auch froh und stolz.

Der nächste Hilferuf: Hoffnung eines kleinen Mädchens

In dieser Situation treten Bekannte an Katharina heran und erzählen ihr von Anjali. Katharinas Engagement für Raju hat sich herumgesprochen, die Leute bitten sie, dem kleinen Mädchen zu helfen, das bei entfernten Verwandten lebt, die Mutter tot, der Vater weg. Katharina sträubt sich zunächst. Natürlich würde sie dem Mädchen gern helfen, aber gerade erst hat sie die Verantwortung für Raju übernommen, und auch ihre finanziellen Mittel sind natürlich begrenzt.

Doch als sie Anjali, ein schüchternes Mädchen mit großen braunen Augen, nach ein paar Wochen in der Familie besucht, sieht sie, wie unglücklich Anjali in der Familie ist, ohne Perspektive: Ihre Verwandten wollen sie nicht, der Vater der Familie ist gewalttätig und alkoholabhängig. Wahrscheinlich werden sie Anjali – für sie nur ein lästiger Esser – bald zwangsverheiraten oder einfach verkaufen. Jeden Tag weint das Mädchen, sie möchte weg, an einen anderen Ort, und sie möchte zur Schule. Auch die Großmutter von Anjali, die selbst nicht für sie sorgen kann, fleht Katharina an, dem Mädchen zu helfen.

Anfangs hat Anjali Angst vor Katharina, sie fürchtet, dass Katharina sie mitnimmt in ein fremdes Land. Auch spricht Anjali nicht. Oder nur das Allernötigste. Die Erfahrungen ihres bisherigen Lebens haben Spuren hinterlassen. Nach und nach fasst Anjali jedoch Vertrauen zu Katharina, die mittlerweile ein Internat für sie gefunden hat, das nicht zu weit weg ist vom Wohnort der Oma und das auch Kinder besuchen, die Anjali von früher kennt. So hat Anjali wieder einen Ort, an dem sie glücklich ist, und die Perspektive auf eine Zukunft.

Viel Verantwortung und ein Abschied

Katharina dagegen hat nun die Verantwortung für zwei Kinder. Sie bleibt noch bis Ende September 2011 bei ihnen in Kathmandu, dann muss sie ausreisen, da ihr Visum ausläuft. Außerdem gehen ihre Ersparnisse zu Neige. Sie kehrt zurück nach Deutschland, um Geld zu verdienen, denn nun muss sie monatlich 200 Euro zusätzlich aufbringen für Essen, Kleidung, Miete, Schulgebühren, Bücher. Ihre Eltern unterstützen sie dabei, ebenso Freunde. Zudem hat sie zwei Projekte auf betterplace.org angemeldet (katharina.betterplace.org) und so weitere Unterstützer gefunden.

Um die Kinder vor Ort kümmert sich Jigme, ein Freund, der selbst unter widrigen Bedingungen aufgewachsen ist und es geschafft hat. Er wohnt mittlerweile zusammen mit Raju und verwaltet auch das Geld, das Katharina schickt. Raju selbst schreibt ihr regelmäßig Briefe und sie kommunizieren oft per Skype, Telefon, Facebook. So weiß sie stets, wie es ihren Schützlingen geht. Wie eine Familie seien sie, erzählt Katharina; Raju, Anjali und auch Jigme wie Geschwister für sie. Und ihre Augen leuchten. Sie scheint sehr zufrieden mit dem Ausgang ihrer Weltreise. Nur eines stört sie: „Am liebsten wäre ich die ganze Zeit bei ihnen“, erzählt Katharina, „bei ihnen in Nepal.“ Aber das geht nicht, sie kann sie nur ab und zu besuchen. Denn sie muss hier in Deutschland Geld verdienen, um ihre „Familie“ zu versorgen.

Wer sie dabei unterstützen möchte, kann das mit einer kleinen Spende auf betterplace.org tun unter raju.betterplace.org und anjali.betterplace.org.

Teile gern die Geschichte und erzähle sie weiter. Und falls Du Fragen hast oder Informationen benötigst, schreibe an kmi@betterplace.org oder rufe an unter 030-767644880. Vielen Dank!

Kirsten Mieves von betterplace.org

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