Mit Hilfsgeldern Waffen kaufen

Joana Breidenbach
04.03.2010

Seit Wochen schon wollte ich hier im blog über ein Buch schreiben, welches ich unendlich spannend und erhellend fand. Doch da Famine Crimes. Politics and the Disaster Relief Industry in Africa von Alex de Waal schon 1997 erschienen ist, schien es keinen Zeitdruck zu geben. Das änderte sich heute morgen, als ich im Autoradio auf BBC die brandaktuellen Entlarvungen des BBC Autor Martin Plaut hörte. Der hatte recherchiert, dass während der Hungersnot in Äthiopien 1984/85, Millionen Euro (einer Quelle zufolge um 70€ Millionen), die westliche Privatspender u.a. in Folge von Bob Geldof’s “Band Aid” Konzert gesammelt hatten, statt an hungerleidende Zivilisten, in die Hände von Rebellenführer gelangte, die damit Waffen kauften und versuchten die von der Sowjetunion finanzierte Militärregierung des Landes zu stürzen.

Hilfsorganisationen reagierten heute empört auf diese Enthüllungen und verkündeten, dieses sei das erste Mal seit der Dürrekatastrophe vor 25 Jahren, dass solche Anschuldigungen vorgetragen würden. Einer von ihnen, der humanitäre Helfer Max Peberdy, der im Auftrag von Christian Aid mit 500.000 Dollar in Cash ins Land eingereist war um damit Getreide für die Hungerleidenden zu kaufen, sagte der BBC aus, kein Dollar seiner Organisation sei in falsche Hände geflossen. Ein Photo von damals zeigt ihn zusammen mit einem äthiopischen Weizenhändler bei der Geldübergabe. Doch bei diesem “Händler” handelte es sich um einen der führenden Rebellen der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), die gegen die Regierung kämpfte. Dem BBC gegenüber sagte der Rebellenführer, er habe sich die Händlermontur nur als Tarnung angezogen und unter den Säcken mit Weizen seien in Wirklichkeit viele andere, die mit Sand gefüllt gewesen wären. Ehemaligen Rebellen zufolge flossen 95% der Hilfsgelder in den politischen Kampf, während nur 5% der betroffenen Bevölkerung direkt zugute kam.

Die ersten Vorwürfe seit 25 Jahren?
Was mich verwundert, ist dass humanitäre Organisationen jetzt so tun, als hörten sie diese Vorwürfe zum ersten Mal. Denn der hochrenommierte Afrikakenner Alex de Waal beschreibt genau diese Vorgänge in seinem Buch (ebenso wie in zahlreichen Artikeln in europäischen und amerikanischen mainstream Medien).

De Waals Grundthese ist, dass Hungersnöte nie Resultat von Dürre oder sonstigen Umweltfaktoren ist, sondern immer Ausdruck einer politische Krise. Anhand von zahlreichen Beispielen aus Kenia, Zimbabwe und Äthiopien weist er nach, dass es nur in solchen Situationen zu Hungerkatastrophen kommt, in denen politische Machthaber NICHt für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden können. Demokratische Systeme, wie z.B. in Indien, schaffen es trotz vergleichbarer akuter Nahrungsengpässe, Hilfsgüter zu den Betroffenen zu schicken. Denn wenn die Politiker sich nicht um repräsentative Teile ihrer Bevölkerung kümmern, sind sie nach der nächsten Wahl ihre Posten los.

Er wirft der Katastrophenhilfe-Industrie vor, so zu tun, als seien Hungersnöte ein wirtschaftliches und logistisches Problem, welches sie mit genügend Spendengeldern beseitigen könnten. Die Argumentation verkürzt Nothilfe auf ein technisches Problem, welches mit technischen Mitteln zu beheben ist. Diese Perspektive stärkt, so de Waal, die Position von Hilfsorganisationen, geht aber an dem eigentlichen politischen Problem völlig vorbei und ermöglicht es diktatorischen Machthabern im Schutz der humanitären Gemeinschaft sich weiter an der Macht zu halten.

Gerade am Beispiel der Hungersnot in Äthiopien 1984/85, zeigt de Waal diese Dynamik und die unintendierten Folgen humanitärer Hilfe: Er beschreibt, wie die Nahrungsmittelknappheit in Folge von ausbleibenden Regenfällen nur in den Regionen zum krassen Problem wurde, in denen die Regierung in militärische Auseinandersetzungen mit Rebellen involviert war und die Bevölkerung z.T. zwangsumgesiedelt wurde. (Als ich vor ein paar Jahren durch Äthiopien reiste, war es enorm eindrucksvoll die unzähligen verrosteten Panzer zu sehen, die in der Landschaft verteilt als Relikte eben diese Bürgerkrieges standen, der im Schatten des Kalten Krieges stattfand). De Waal beleuchtet im Detail, wie westliche Medien die Katastrophe inszenierten. Das Band Aid Konzert fand marketingmäßig perfekt plaziert in der Weihnachtzeit statt, Journalisten schilderten die Katastrophe als naturgemachtes Inferno, welches über hilflose Opfer hereinbrach. Nichts hätte ferner von der Wahrheit entfernt sein können.

Die Vorwürfe, die de Waal gegenüber der äthiopischen Regierung unter Mengistu zusammenträgt, die die Hungersnot verschlimmerte, sind gewaltig. Aber die Hilfsorganisationen und die UN spielten deren Spiel wissentlich mit. Die einzige Organisation, die gegen die Regierung protestierte und das Land verließ, war Médecins Sans Frontières. Obwohl für alle Anwesenden offensichtlich, wurden Berichte über die Umleitung von Hilfsgütern in die Hände der Militärs und Rebellen, von internationalen Organisationen ignoriert:

Subsequent evidence revealed that the majority of the relief food … was being consigned to the militia… In 1985, Ethiopia received about 1,25 million tonnes of food relief, of which a mere 90.000 tonnes was distributed … in non-government-held areas of Eritrea and Tigray, where between a third and a half of the famine-stricken population lived.

… The relief programme supported President Mengistu militarialy and politically … very few rural people and very many soldiers were fed. … The humanitarian effort prolongued the war, and with it, human suffering.

Aber auch die Rebellen, die jetzt in der BBC-story ins Rampenlicht geraten, bedienten sich aller internationaler Hilfsgüter, deren sie habhaft werden konnten. Vertraut man de Waal, dann waren die Mengen, um die es bei der Tigray People’s Liberation Front ging im Vergleich zu der, die die Regierung abzweigte, verschwindend gering. Und als eine Befreiungsbewegung, die in der lokalen Bevölkerung stark verankert und auf diese in ihrem Kampf angewiesen war, setzte sie sie laut de Waal eher zum Wohl der Hungernden ein.

Famine Crimes ist in vielerlei Hinsicht ein Augenöffner, der eine - in den Augen des Autors - verheerende Veränderung im Selbstverständnis von humanitären Organisationen dokumentiert: die einst neutralen Helfer (die Grundidee des Roten Kreuzes) werden zu machtvollen politischen Akteuren, die jedoch selbst von anderen politischen Kräften (Diktaturen ebenso wie westlichen Regierungen) als Feigenblatt und Spielball verwendet werden. Sie beruhigen das Gewissen der westliche Öffentlichkeit, fördern damit aber indirekt Diktaturen. Sein Fazit lautet:

African generals and politicians are the prime culprits for creating famines … but despite prodigious expenditure and high public profile, relief agencies often do more harm than good. From Biafra to Rwanda, relief has helped to fuel war and undermine democratic accountability. As the influence and resources of UN agencies and NGOs have grown, the chances for effective local solutions have diminished. Humanitarian intervention and other high-profile relief operations have failed. Progress lies in bringing the fight against famine into democratic politics and calling to account those guilty of creating famine.

12 Jahre sind seit der Veröffentlichung von Famine Crimes vergangen. Viele andere Autoren, darunter David Rieff in A Bed for the Night, haben seitdem vergleichbare Argumentationen vorgebracht und darauf hingewiesen, dass humanitäre Organisationen den guten Intentionen und Taten ihrer Mitarbeiter zu Trotz, in vielfältige Widersprüche zwischen ihrem humanitären Auftrag und Machtpolitik verstrickt sind. Die Diskussion ist spannend und muss geführt werden. Wieso jetzt allerdings die BBC so tut, als würden ganz neue Tatsachen über die Hungersnot in Äthiopien hervorgekehrt werden, erscheint mir ebenso merkwürdig, wie die vehemente Behauptung von Hilfsorganisationen nichts von dem Gesagten sei wahr.