Moving Out Of Poverty - Die Stimmen der Armen

Joana Breidenbach
11.04.2010

In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen kritischer Entwicklungsökonomen und informierter Laien, darunter Bill Easterly und Dambisa Moyo, die das Scheitern der Entwicklungspolitik der letzten Dekaden konstatieren und versuchen alternative Wege aus der weltweiten Armut aufzuzeigen. Jetzt ist eine Studie erschienen, die auf einer sehr breit angelegten empirischen Basis, neue Perspektiven zur Armutsbekämpfung darlegt.

Moving Out of Poverty. Success from the Bottom Up ist das Werk von Deepa Narayan, der Projektleiterin der Weltbank Studie „Moving out of poverty: Understanding, Freedom, Democracy and Growth“, Lant Pritchett, Professor der Praktischen Entiwicklungsökonomie an der John F. Kennedy School of Government, Harvard University und Soumya Kapoor, Beraterin für Soziale Entwicklung bei der Weltbank in Indien.

Die gut geschriebene Studie basiert auf einer großen Datenfülle: 60.000 Männer, Frauen und Jugendliche in 21 Regionen (Dörfern) in 15 Ländern in Afrika, Süd- und Ostasien und Lateinamerika wurden in ihren Lebenswegen aus der Armut und in die Armut hinein untersucht. Moving Out of Poverty stellt die Erfahrungen und Ansichten der untersuchten Armen in den Mittelpunkt, d. h. es beschreibt lokale Realitäten auf eine sehr ethnographische Art und Weise und argumentiert aus der Perspektive der Betroffenen selbst (statt von westlichen Theoriegebilden auszugehen, die dann in der Praxis verifiziert oder falsifiziert werden).

We start with questions, not theories. We use an inductive approach to gradually aggregate, life story by life story, discussion by discussion, the threats that tie these experiences together. In doing so … we gain insights into the underlying processes by which people either escape poverty or remain stuck in chronic poverty. These insights guide our concluding reflections on policy and action that call for innovations on a large scale by civil society, businesses, and governments, informed by poor people’s realities.

Nicht Experten, sondern die Menschen selbst definieren, wer arm ist
Die Vorgehensweise, arme Menschen selbst sprechen zu lassen, fängt schon mit der Definition von Armut an. Statt herkömmliche Weltbank-Kriterien zu nehmen, fragen die Autoren die untersuchten Bevölkerungsgruppen, was sie unter Armut verstehen. Dabei erstellt jede Gruppe eine differenzierte Karte der eigenen Gesellschaft und ihrer sozialen Stratifikation (meist in 4-6 verschiedene soziale Schichten) und bestimmt zwischen welchen Schichten die Armutsgrenze verläuft: so gelten in Bufkaro (Uganda) Menschen als arm, die zwar eine eigene Matratze und ein paar Möbel besitzen, diese aber immer wieder in Krisenzeiten verkaufen müssen, während im indischen Kamalapur die Armutsgrenze zwischen denen verläuft, die eigene Häuser bzw. keine festen Häuser haben.

Gemäß dieser subjektiven Armutsdefinition sind die meisten Menschen in den untersuchten Gebieten arm – Armut ist etwas, was die Bevölkerungsmehrheit betrifft und potentiell für alle ein Risiko darstellt.

Wieso sind Menschen arm?
Die im Westen dominierenden drei Armuts-Theorien gehen entweder davon aus, dass die Armen ihr Schicksal charakterlichen Defiziten, bzw. einer „Kultur der Armut“ (mit Merkmalen wie Apathie, Entfremdung und geringem Selbstwertgefühl) zu verdanken haben, oder á la Marx systemisch-gesellschaftliche Faktoren (die kapitalistische Produktionsweise) Armut erzeugen. So unterschiedlich diese Theorien sind, sie alle verweigern den Armen einen eigenen Handlungsspielraum. Dagegen verstehen die meisten Armen sich als eigenständige Akteure, denen es immer wieder gelingt aus der Armut zu entkommen. Armut ist kein permanenter Zustand oder gar eine Identität, sondern eine Erfahrung. Sie ist nicht statisch, sondern höchst dynamisches: in den untersuchten Gruppen wanderten viele Menschen zwischen den Schichten hin und her: in den meisten Regionen kletterte die Hälfte der Bevölkerung während ihres Lebens mindestens eine Schicht nach oben, im Durchschnitt schafften ¼ der Haushalte den Sprung über die Armutsgrenze.

Statistische Erhebungen über Steigungen oder Senkungen der Armutsraten verdecken oft die Tatsache, dass beides zugleich stattfindet: In Malawi beispielsweise gab es im Zeitraum der Studie einen marginalen Zuwachs von 1% an Armut, eine differenzierte Analyse zeigte jedoch, dass 10.2% der Haushalte die Wohlstandsleiter hochkletterten und zugleich 10.6 in die Armut zurückfielen.

Welche Faktoren waren ausschlaggebend dafür, dass Menschen die Wohlstandsleiter hochklettern konnten? 77,5% der Interviewten verwiesen auf ihr Selbstbewusstsein und ihre starke Persönlichkeit, die sie dazu gebracht hätten sich einen Job zu suchen, unternehmerisch tätig zu werden oder in der Landwirtschaft zu reüssieren. Nur 3,4% führten ihre verbesserten Lebensbedingungen auf Regierungsmaßnahmen zurück und ganze 0,3% auf die Hilfestellungen von Seiten von Hilfsorganisationen.

Nicht nationale, sondern lokale Konditionen sind ausschlaggebend
Anders als es das Klischee will, demnach nationale und kulturelle Unterschiede maßgebliche Auswirkungen auf Armut haben, fördert die Studie zutage, dass es vor allem die Konditionen in der engen lokalen Umgebung (dem Dorf und seiner engeren Umgebung) sind, die über die Chance entscheiden, aus der Armut zu entfliehen. Positiv wirkten sich die allgemeine ökonomische Situation (gibt es vor Ort Arbeitsplätze?), das Vorhandensein von (physischen) Märkten und die verkehrstechnische Anbindung an Städte aus. Dem Aufstieg entgegen stehen vor allem große soziale Klüfte innerhalb einer Gesellschaft und Korruption, die den fairen Zugang zu Märkten und Dienstleistungen behindern.

Verantwortungsbewusste lokale demokratische Strukturen können Armut reduzieren
„Elite capture“ war in allen untersuchten Gesellschaften weit verbreitet – d.h. Eliten bereicherten sich an Gütern und Dienstleistungen (von denen viele aus Entwicklungshilfeprojekten stammten), die eigentlich der Gemeinschaft zustehen, verteilten diese an ihre Gefolgschaft oder verkaufen sie.

In Gemeinschaften mit weniger korrupten, verantwortungsbewußteren Politiker hatten Menschen besseren Zugang zu Trinkwasser, Schulen und Gesundheitsdiensten, allerdings ging damit noch keine automatische Senkung der Armutsrate einher; insbesondere in Konfliktzonen scheinen demokratische Strukturen nicht zu besseren Lebensbedingungen zu führen.

Solidarität unter Armen führt nicht zu wachsendem Lebensstandard
Paradoxerweise fanden die Autoren eine negative Korrelation zwischen kollektivem Solidarverhalten und Lebensstandard. Arme Menschen sind darauf angewiesen, dass sie sich in Krisenzeiten gegenseitig stützen und mit Geld, Arbeit und Nahrung versorgen. Doch die vielen traditionellen kollektiven Arbeitsgruppen und Sparzirkel stoßen meist sehr schnell an eine Grenze. In den Worten eines der Interviewten: „There is a limit to how much one hungry man can feed another“ und auch gemeinsam schaffen sie es nicht genügend Ressourcen zurückzulegen, um den Sprung in die nächste soziale Schicht zu schaffen. Es kann sogar argumentiert werden, dass diese Solidarnetze einen Aufstieg aktiv verhindern, denn Individuen, die sich aus ihnen ausklinken (z.B. um Kapital für eine neue Bewässerungstechnologie, Vieh oder Nähmaschine zu akkumulieren) werden misstrauisch beäugt und sind einem großen sozialen Druck ausgesetzt, ihre eigenen Ressourcen mit anderen zu teilen.

Welches sind die wesentlichsten Strategien um Armut zu reduzieren?
Die auf 400 Seiten angeführten Geschichten belegen überzeugend, dass es der großen Mehrzahl der Armen nicht am Willen zur harten Arbeit und Vorstellungskraft für ein besseres Leben fehlt. Im westlichen Alltagsdiskurs verbreitete viktorianische, kulturalistische oder marxistische Erklärungen für Armut greifen nicht: arme Menschen können sich sehr wohl helfen, sind nicht faul, trunken oder dumm und sie kapitulieren auch nicht vor dem System:

Indeed, a major finding of the study is that there is no such fixed group as „the poor“. Poverty is a condition, not a permanent identity.

Die Autoren identifizieren 3 wichtige Prinzipien für eine erfolgversprechende Entwicklungspolitik:

  1. Alle Interventionen müssen die Armen in ihrer Eigeninitiative stärken. Neben den vielen Bedürfnissen, die sie haben, verfügen sie nämlich auch über eine Fülle an Aspirationen, Träumen, Ehrgeiz und Fähigkeiten, die sie ermächtigen, sich selbst zu helfen.
  2. Die Armen haben ein erstaunlich großes Vertrauen in den Markt und in ihren eigenen Unternehmergeist. Deshalb lautet das 2. Prinzip: Wir müssen Märkte so transformieren, dass auch arme Menschen fairen Zugang zu ihnen bekommen. Dazu gehört der Ausbau von Infrastruktur, von Straßen und Telefonen, Elektrizität und Bewässerungstechnologien, ebenso wie die Möglichkeit Kredite aufzunehmen und relevante Informationen (über Marktpreise und Geschäfts-Knowhow) zu erhalten.
  3. Arme Menschen glauben dass Regierungen und lokale demokratische Strukturen ihnen helfen können der Armut zu entfliehen. Verantwortungsbewusste lokale Politiker, gerechte Wahlen, verbesserter Zugang zu Informationen, Teilhabe und kollektive Aktionen tragen dazu bei, dass arme Bevölkerungsgruppen von ihren lokalen Anführer Rechenschaft einfordern und darüber ihre Situation nachhaltig verbessern können.