Gegen das Vergessen

Kirsten Mieves
30.10.2012


An einem regnerischen Tag im Herbst 2006 klingelt es an Jochen Barthels Tür. Vor ihm stehen zwei Frauen; Anfang 40 die eine, Ende 50 die andere. Beide sind in graue Mäntel gekleidet, dunkle Haare fallen ihnen in Wellen auf die Schultern. Zaghaft fragen sie, ob sie in seine Wohnung dürften. Einmal sehen, wie sie heute aussieht. Nach all den Jahren.

Es sind Mutter und Tochter, die vor Jochen Barthel stehen, sie haben vor vielen Jahren in seiner Wohnung in der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg gelebt. Er bittet sie hinein, und sie betrachten den Ort mit Erinnerungen. Das Bett stand zum Beispiel dort, wo Jochen Barthels Bett heute steht, erzählen sie, und der Schrank dort drüben. In dieser Wohnung haben sie damals gelebt, bevor sie kamen, um die Mutter zu holen. Sie, das ist die Stasi. Damals, das ist vor knapp 30 Jahren. Die Mutter nahmen sie mit, weil sie verdächtigt wurde, Fluchthelferin zu sein. Zwei Jahre kommt sie ins Gefängnis, und die Tochter, damals elf, lassen sie einfach zurück in der Wohnung. Allein. Sie schlägt sich nach Leipzig durch, zu Verwandten, die für sie sorgen, bis die Mutter wieder frei kommt. Die Wohnung haben beide seit damals nicht mehr betreten. Jetzt treibt sie die Erinnerung hierher. Eine halbe Stunde bleiben sie, trinken noch einen Kaffee, erzählen ihre Geschichte. Dann gehen sie wieder.

Was geschah noch in diesem Haus?

Jochen Barthel bleibt bewegt zurück. Die Begegnung mit den beiden Frauen und ihren Erinnerungen an diesen Ort, der jetzt seiner ist, hat ihn ins Nachdenken gebracht. Dieser Ausschnitt von Erinnerungen, die Geschichte vom Verschwinden und der Versuch gegen das Vergessen.

Es ist ein altes Haus, in dem er wohnt, und Jochen Barthel fragt sich, was sich sonst noch hier abgespielt haben mag. Wer hat hier gelebt, und was haben die Menschen erlebt? Was sind ihre Erinnerungen und Geschichten? Jochen Barthel denkt an die Zeit von 1933 bis 1945, in der aus so vielen Häusern so viele Menschen verschwanden, deportiert wurden von den Nazis, in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und umgebracht. In Dachau, Auschwitz, Treblinka und vielen weiteren. Auch aus seinem Haus? Aus seiner Wohnung? Der Gedanke begleitet ihn über die Jahre. Jochen Barthel überlegt, wie er weiteren Erinnerungen dieses Hauses auf die Spur kommen kann. Schließlich sieht er einen Weg.

Jochen Barthel kennt die sogenannten Stolpersteine, die an immer mehr Orten in immer mehr Städten Deutschlands vor den Eingangstüren der Häuser in den Gehweg eingelassen sind. An jenen Orten, an denen Menschen zuletzt gelebt haben, bevor die Nazis sie verschleppten, in KZs brachten und ermordeten. Manchmal liegen die Steine vor neuen Häusern, weil die alten nicht mehr da sind, oder vor einem Platz, wenn es kein Haus mehr dort gibt. Die Steine tragen die Namen der Opfer, ihre Geburtsdaten, den Ort ihrer Ermordung und – falls bekannt – das Todesdatum.

Verschleppt und ermordet

Jochen Barthel meldet sich bei Gunter Demnig, dem Initiator des Stolperstein-Projektes. Die Recherche beginnt und bald stellt sich heraus: Auch aus dem Haus, in dem Jochen Barthel jetzt wohnt, wurden neun Menschen von den Nazis verschleppt und umgebracht. Bei einer zehnten Person ist das Schicksal ungewiss.

Gerda Wisch, 23, und die kleine Sally, 2 Jahre alt, wurden am 3. März 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Helene und Fritz Cohn, 50 und 21 Jahre alt, wurden am 17. November 1941 nach Kaunas deportiert und getötet.

Else Fuss, 44 Jahre alt, wurde am 24. August 1943 nach Auschwitz verschleppt und ermordet; Hans Ulrich Fuss, 20 Jahre alt, am 24. November 1944 nach Sachsenhausen gebracht, ermordet am 10. März 1945 in Neuengamme.

Leo, Johanna und Georg Unger, 63, 62 und 35 Jahre alt, wurden am 5. September 1942 nach Riga deportiert und dort umgebracht.

Das Schicksal von Philipp Milet ist unbekannt.

Jochen Barthel kennt nun die Opfer aus „seinem“ Haus. Er kennt ihre Namen, weiß, wie alt sie waren. Und dass sie nie wieder zurückkehrten. Er weiß auch, dass sie zu Nummern wurden in den Konzentrationslagern, ihrer Namen und ihrer Individualität beraubt. Und sie wurden Teil einer monströsen Zahl: Millionen von Menschen haben die Nazis während ihrer Terror-Herrschaft in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet. Jochen Barthel möchte den Menschen, die in seinem Haus gelebt haben, ihre Namen wiedergeben, ihre Individualität und einen Ort der Erinnerung. Bald sollen auch vor seinem Haus in der Stargarder Straße Messingsteine liegen. Die Steine können dann vielleicht etwas erzählen, vom Verschwinden und gegen das Vergessen. Und jene, die vorübergehen, bleiben dann vielleicht einen Moment stehen, beugen sich hinunter und halten kurz inne, um jener zehn Menschen zu gedenken.

Um genug Geld für die Stolpersteine bzw. für die sogenannten Stolperstein-Patenschaften zusammenzubekommen, sammelt Jochen Barthel für sein Projekt auf betterplace.org. 1.200 Euro benötigt er insgesamt für jene zehn Steine; nur einigen der Opfer einen Stein legen lassen, das möchte er nicht. Daher benötigt er Unterstützer. Unter stolpersteine.betterplace.org geht es zu Jochen Barthels Projekt auf betterplace.org. Hier gibt es weitere Informationen und die Möglichkeit zu spenden oder direkt die Patenschaft für einen Stein zu übernehmen.

Teile die Geschichte und erzähl sie weiter! Und falls Du Fragen hast oder Informationen benötigst, schreibe an kmi@betterplace.org oder ruf an unter 030-767644880. Vielen Dank!

Kirsten Mieves von betterplace.org

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