Tibet - Kultureller Völkermord?

Joana Breidenbach
29.04.2008

In dem für kulturwissenschaftlich Interessierte lesenswerten blog antropologi.info (er erscheint auf deutsch, englisch und norwegisch) findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem dominanten Tibet-China-Diskurs.

Im Zuge des olympischen Fackellaufs beherrscht der “kulturelle Völkermord” der Volksrepublik an den Tibetern die Medien und es ist nur zu einfach in den allgemeinen Kanon der Empörung über die Missachtung der Menschenrechte seitens der KP einzustimmen.

“Die tibetische Kultur blüht und gedeiht in China”

Zugleich melden sich aber auch kritische Stimmen, wie die auf anthropologi.info zitierten. Da ist der Ethnologe Ingo Nentwig mit seinem Statement: „Die tibetische Kultur blüht und gedeiht in China“.

China hat eine gigantische Produktion an Büchern, Zeitungen und Zeitschriften in tibetischer Sprache, es gibt zahlreiche tibetische Verlage, nicht nur in Tibet, sondern auch in den angrenzenden Provinzen und sogar in Peking - die Tibetologen sind gar nicht in der Lage, das alles wahrzunehmen.

Tibetische Schriftsteller schreiben auf Tibetisch und auf Chinesisch. Sie können nicht nur tibetische Literatur kaufen, sondern auch tibetische Übersetzungen zum Beispiel von Shakespeare, Hugo und Balzac. Es gibt eine Akademie für traditionelle tibetische Medizin in Lhasa. Das berühmte Gesar-Epos, die wichtigste mündliche Überlieferung der Tibeter, wird umfassend erforscht. Sänger dieses Epos’, die stundenlang, teilweise tagelang vortragen, werden hofiert und dokumentiert. Von irgendetwas wie “kulturellem Völkermord” kann überhaupt keine Rede sein.

Zugleich räumt Nentwig ein, dass es in der freien Religionsausübung z.T. gewaltige Einschränkungen gibt. Zwar könne jeder Tibeter seinem Glauben unbehindert nachgehen, aber religiöse Funktionsträger, die versuchen oppositionelle Politik zu machen, würden verfolgt.

Auch auf dem wohl bekanntesten kulturanthropologischen Gruppen-Blog Savage Minds sind in den letzten Wochen viele gute Kommentare zu dem Thema erschienen, insbesondere auch dessen Darstellung in den westlichen und chinesischen Medien betreffend.

Verzerrungen von Seiten der Tibet-Aktivisten

Ich habe mich letztes Jahr auch etwas ausführlicher mit der China-Tibet-Frage auseinander gesetzt und zwar in Zusammenhang mit Maxikulti. In der englischen Version des Buches beschreiben Pál und ich -basierend auf einem Artikel von Washington Post Journalist Sebastian Mallaby , wie Pro-Tibet Aktivisten 1999 eine weltweite Öffentlichkeit gegen ein Weltbank-Projekt zum Teil unter Vortäuschung falscher Tatsachen, zum Fall brachten.

Während die Aktivisten – unterstützt von Nancy Peloci und einem Beastie Boy – verkündeten, bei der geplanten Umsiedlung in der Chinesischen Provinz Qinghai würden 60.000 Han Chinesen in das tibetisch dominierte Gebiet angesiedelt werden, sah der Kreditantrag der Volksrepublik nur die Umsiedlung der schon in der Provinz lebenden Bevölkerung vor: 40% von ihnen waren Han Chinesen, der Rest Mongolen und nur 3.500 Tibeter. Zudem gehört Qinghai gar nicht zu Tibet, sondern war schon zu Zeiten des chinesischen Kaiserreichs Teil von China.

Eine differenzierte Perspektive ist notwendig

All dies entschuldigt die begangenen Menschenrechtsverletzungen der Chinesen in Tibet in keinster Weise. Wir sollten aber bei unserer Beschäftigung mit dem Thema mehr Grautöne und Differenzierungen zulassen. Statt alle Tibeter als Opfer und Feinde der Chinesen zu beschreiben, sollten wir der Vielflat der Meinungen unter Tibetern ein Ohr schenken. Dazu noch einmal ein Zitat des Ethnologen Ingo Nentwig:

Ich habe im Rahmen meiner Feldstudien mit Hunderten Tibetern gesprochen, darunter auch mit etlichen Mönchen. Deren Haltungen und Meinungen in puncto Politik sind so heterogen, wie sie nur sein können. Die einen mögen die Chinesen nicht, wenden sich aber dennoch gegen eine Unabhängigkeit. Andere kommen außerordentlich gut mit den Chinesen zurecht, wieder andere wollen sich von China lossagen. Das Bild von den guten Tibetern und den bösen Chinesen ist plumpe Schwarzweißmalerei.
(…)
Nach meinem Gefühl besteht aber gerade bei der einfachen Landbevölkerung, die den Großteil des tibetischen Volkes stellt, eine große Mehrheit für den Verbleib Tibets im chinesischen Staatsgebiet. Entsprechend gut ist dort auch das Verhältnis mit den Han-Chinesen. Auf antichinesische Einstellungen stößt man vornehmlich bei den Eliten.