Was halten die Opfer humanitärer Katastrophen von Hilfsorganisationen?

Joana Breidenbach
07.08.2009

Vor ein paar Tagen landete der Jahresbericht 2008 von HAP (Humanitarian Accountability Partnership) auf meinem Schreibtisch. HAP ist eine renommierte Institution mit Sitz in Genf, die Humanitäre INGOs in ihrem Qualitätsmanagement berät und zertifiziert. Zu ihren Mitgliedern gehören u.a. Save the Children UK, Oxfam UK, Care International, Muslim Aid und The Danish Refugee Council.

Der gesamte, knapp 200 Seiten umfassende Bericht über die Rechenschaftsleistungen humanitärer Organisationen im Jahre 2008 istonline abrufbar. Hier deshalb nur einige der für mich interessantesten Ergebnisse:

Insgesamt scheinen Rechenschaftspflichten im Bewusstsein von Hilfsorganisationen einen immer wichtigeren Stellenwert einzunehmen. Immer mehr Organisationen, internationale ebenso wie nationale, implementieren Rechenschaftssysteme und lassen sich in diesem Bereich fortbilden und zertifizieren.

Als besonders wichtig wird dabei die Rechenschaftspflicht gegenüber den Nutznießern/Empfängern/beneficiaries angesehen (wieso gibt es im Deutschen für diese Gruppe keine gute Bezeichnung? Wie soll man die Menschen nennen, die humanitäre Hilfsleistungen erhalten? Im englischen hat sich „Beneficiary“ oder „Primary Stakeholder“ eingebürgert). Werden sie genügend in die Hilfsprojekte einbezogen? Können sie sie mit planen, begleiten und verändern? Haben sie eine Stimme und können Beschwerden äußern, ohne dadurch Schaden zu nehmen?

In der Theorie ist diese Partizipation der lokalen Bevölkerung meist angedacht, doch in der Praxis scheinen die Organisationen weit hinter ihrer Rhetorik hinterherzuhinken. Viele umfangreichen empirischen Studien über den humanitären Sektor deuten darauf hin, dass:

  1. nur wenige Beneficiaries die Möglichkeit haben, sich über die Arbeit einer Organisation zu beschweren und

  2. die Partizipationsmöglichkeiten nach wie vor eingeschränkt sind.

Sexueller Missbrauch im Hilfssystem

Eine der großen Skandale im humanitären Bereich betrifft die sexuelle Ausbeutung von Opfern humanitärer Katastrophen durch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Das Thema wurde zum ersten Mal öffentlich thematisiert, nachdem Save the Children 2002 einen großen Report herausbrachte, in dem dargelegt wurde, wie weit verbreitet sexueller Missbrauch in der Hilfsindustrie ist. Seitdem haben viele Organisationen sich bemüht dieses gravierende Problem einzudämmen. Dennoch ist es alles andere als beseitigt: Unabhängig voneinander erstellte Studien von HAP und Save the Children UK in sechs verschiedenen Staaten und 23 Humanitären und Peacekeeping-Organisationen, fanden Belege für

continuing child sexual exploitation and abuse by aid workers“, aber auch für eine „deep-seated reluctance by those affected, their parents and cares and also other aid workers to complain about sexual exploitation and abuse by aid workers.

Die Betroffenen haben Angst sich zu beschweren, da sie zum einen von den Hilfsorganisationen abhängig sind und befürchten deren materielle Unterstützung entzogen zu bekommen, aber auch, weil sie nicht wissen wie und bei wem sie sich beschweren können. Nur die wenigsten Organisationen haben state of the art Beschwerdeprozeduren, z.B. eine mehrsprachige 24Sunden Hotline mit unabhängigen Seelsorgern, wo Hinweise eingehen können und die Telefonkosten von der Organisation getragen werden.

Mangelnde Partizipation lokaler Gemeinschaften

Viele Bevölkerungen werden in die humanitären Einsätze gar nicht, oder nur wenig einbezogen. Sie sind vielmehr passive Empfänger standardisierter Hilfsprogramme (bei denen z.B. alle Familien die gleichen, genormten Hilfsgüter bekommen, unabhängig davon, ob sie aus 4 oder 10 Mitgliedern bestehen.) Sie sind über ihre Rechte schlecht informiert und gehen meist davon aus, dass ihre Meinung sowieso niemanden interessiert. Viele Betroffene wissen gar nicht, wer genau ein Projekt leitet, wer Hilfe bekommen wird (auf der Basis welcher Kriterien) und woraus die Hilfe besteht (in einem Hilfsprojekt in Bangladesh nach dem Zyklon Sidr erhielten Frauen 2 Monate lang keine Damenbinden und Seife, um ihre Saris zu waschen. Sie wurden einfach nicht danach gefragt, was sie dringend benötigten).

Evaluation – und dann?

In den letzten Jahren haben Hilfsorganisationen enorme Fortschritte in der Projektevaluation gemacht, d.h. die Resultate ihrer Programme werden immer öfter gemessen und bewertet. Doch nur wenige der befragten Organisationen nahmen das Feedback von beneficiaries wirklich ernst und holten es systematisch ein. Knapp die Hälfte sah es nicht als ihre Pflicht an, den Empfängern ihrer Leistungen gegenüber Rechenschaft abzulegen.

Wie der HAP Report bemerkt:

It is somewhat paradoxical that when evaluation is regarded as a significant component in the accountability framework of the humanitarian system, none of those reviewed systematically considered the accountability systems in place and more than half of them do not even explicitly consider accountability to intended beneficiaries and local communities in their approach or the way their reports were structured.

Evaluation findet so häufig im luftleeren Raum statt: Man kann sagen, dass man ein Programm evaluiert und den Report veröffentlicht hat (das gehört mittlerweile zum guten Ton). Dabei bleibt offen, ob die gewonnenen Kenntnisse auch in der Praxis einen Widerhall finden und als ernst genommene Korrektur für die Projektarbeit abgesehen werden. Einiges deutet darauf hin, dass dies oft nicht der Fall ist. Der Bericht wandert in die Schublade, anstatt das aus ihm gelernt wird.

The Listening Project

Eine der interessanten Initiativen, die den Empfängern humanitärer Hilfe eine Stimme verleihen möchte, ist das Listening Project, welches seit 2005 in mittlerweile 13 Ländern mit 3.500 Menschen Gespräche geführt hat um herauszufinden, was sie von der empfangenen Hilfe halten. Das zwischenzeitliche Ergebnis ist nicht sehr ermutigend:

most recipients …say that they have no power to hold aid agencies accountable. Lack of knowledge of what they should expect, fear of loosing out if they complain, and not knowing where to complain to were all cited as reasons as to why recipients and communities did not complain more.

Im Gegensatz dazu stand der explizite Wille der meisten Befragten aktive Rollen zu übernehmen:

people want to play active roles in the entire project cycle and aid process: from identifying needs, determining priorities, to designing and choosing projects/activities, from selecting who receives aid to implementation and managing the projects; and finally, to monitoring and evaluating the impacts.

HAP führte 2008 auch eine Meinungsumfrage zum Thema Rechenschaft bei Organisationen und ihren Mitarbeitern durch. Die Resultate ergeben, dass Organisationen sich mehr ihren Geldgebern verpflichtet fühlen, als ihren „Kunden“, den Überlebenden humanitärer Katastrophen. Die meisten Mitarbeiter gaben dabei an, selbst schon viel weiter zu sein und ihren eigenen Empfängern gegenüber Rechenschaft abzulegen. Im Gegensatz dazu sei ihre Organisation an sich noch viel zu wenig daran interessiert und gerade in Zeiten einer Finanzkrise würde das Buhlen um die Gunst der Geldgeber sich nur noch verstärken.

Fazit: Viele Humanitäre Organisationen sind sich der Bedeutung von Teilhabe lokaler Bevölkerungen und ihren Rechenschaftspflichten bewusst und bemühen sich ihre Prozesse dahingehend zu verbessern (u.a. dadurch, dass sie den HAP 2007 Standards folgen). Doch die Praxis lässt noch sehr viel zu wünschen übrig.