Was ist besser: als Brahmane wiedergeboren zu werden oder lange zu leben?

Joana Breidenbach
25.03.2008

Kulturellen Faktoren wird seit den 90er Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit eine neue Bedeutung zugebilligt. US Politologe Samuel Huntington war einer der ersten, der auf die Bedeutung von Kultur anhand eines seither viel zitierten Vergleichs zwischen Ghana und Korea hinwies:

In den sechziger Jahren besaßen beide Staaten vergleichbare Bruttosozialprodukte, eine ähnliche Aufteilung ihrer Wirtschaft in Rohstoffe, Warenproduktion und Dienstleistungen und erhielten vergleichbare Summen an Entwicklungshilfe. Dreißig Jahre später rangiert Südkorea auf Platz 14 der Weltwirtschaft und besitzt eine mächtige Automobil-, Elektronik- und Konsumwarenindustrie. Ghana, seinerseits, kann nichts dergleichen vorweisen: sein Bruttosozialprodukt macht nur ein Fünfzehntel von dem Südkoreas aus.

Was, fragte Huntington, erklärt diese Unterschiede? Und lieferte die Antwort gleich mit: Südkoreaner schätzen Sparsamkeit und Investment, harte Arbeit und gute Ausbildung, Organisation und Disziplin. Ghanaer haben andere Werte. »Mit einem Wort: Kultur zählt«.

Im Lauf der letzten Jahre haben sich alle westlichen Entwicklungsinstitutionen Kultur auf ihre Fahnen geschrieben. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der Hauptträger deutscher Entwicklungshilfe, veranstaltete jüngst eine ganze Reihe von Diskussionsrunden in Partnerländern zum Thema »Kultur und Entwicklung«. Die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit ruft in der Broschüre »Kultur ist kein Luxus« ihre Mitarbeiter auf, einen »genuinen Kulturreflex« zu entwickeln. Und in einem Beitrag zu einer großen, von der Weltbank organisierten Konferenz über Kultur und Entwicklung forderte einer ihrer ehemaligen kamerunschen Berater, Daniel Etounga-Maguelle, ein »Kulturanpassungsprogramm für Afrika«.

Doch oft ist der verwendete Kulturbegriff so schwammig, dass er jeder Aussagekraft entbehrt.

So erweist sich zum Beispiel der eingangs angeführte Vergleich zwischen den Ländern Ghana und Südkorea bei genauerer Betrachtung der historischen Fakten als »eine aus dem Kontext losgelöste Viertelwahrheit« (Amartya Sen):

Im Jahr 1960 besaß Südkorea eine größere Unternehmerschicht, eine wachstumsorientierte Regierung, enge Wirtschaftskontakte zu Japan und den Vereinigten Staaten, eine viel höhere Alphabetisierungsrate und ein besser ausgebautes Schulsystem.

Diese Unterschiede lassen sich wiederum auf die Politik ihrer jeweiligen Kolonialstaaten zurückführen: Japan, bemüht Koreaner zu vollwertigen kaiserlichen Untertanen zu machen, hatte zwischen 1895 und 1945 nicht nur eine moderneVerwaltung und ein umfassendes Schulsystem aufgebaut, sondern auch in die verarbeitenden Industrien investiert. Großbritannien, auf der anderen Seite, hatte ebenfalls eine Infrastruktur errichtetund die Rohstoffindustrie gefördert. Anstatt jedoch die allgemeine Alphabetisierung voranzutreiben, war ihr mehr am Aufbau lokaler politischer Institutionen und der Förderung einer kleinen Elite gelegen. Hinzu kommt noch ein weiterer, immens wichtiger Aspekt: Südkorea diente den USA sowohl im Korea-, als auch im Vietnamkrieg als enger militärischer Verbündeter und wurde infolgedessen zu einem Hauptempfänger amerikanischer Wirtschaftshilfe.

Natürlich beeinflussen kulturelle Faktoren Entwicklung. So hat der insbesondere in vielen afrikanischen Gesellschaften weit verbreitete Glauben an Hexerei dazu geführt, dass zahlreiche, von westlichen Hilfsorganisationen gebaute Brunnen nicht benutzt wurden. In einem solchen Fall war der Brunnen direkt vor das Gehöft eines mittellosen Bauern platziert worden. Prompt zirkulierten Gerüchte, das eifersüchtige Dorfoberhaupt habe das Wasser vergiftet und die Bewohner tranken fortan weiter ihr kontaminiertes Flusswasser.

Doch statt einer Analyse der spezifischen lokalen Situation bietet uns die Diskussion um Kultur und Entwicklung viel zu oft eine mechanische Korrelation zwischen »Werten« – erhoben auf nationalem oder regionalem Niveau – und wirtschaftlichen Indikatoren. Allein der Verweis auf Ost- und Westdeutschland, oder Nord- und Südkorea genügt jedoch, um zu zeigen, dass geteilte Werte nicht die wirtschaftliche Leistungskraft oder den Entwicklungsweg determinieren.

In einer Zusammenfassung seines ambitionierten “Culture Matters Research Projects” identifiziert Lawrence E. Harrison 25 kulturelle Faktoren – von Risikobereitschaft über Arbeitseifer bis zu Beförderungskriterien –, die Hindernisse oder Motoren für wirtschaftlichen Fortschritt in 117 Ländern darstellen. Sein Fazit: »Protestantische, jüdische und konfuzianistische Gesellschaften sind wirtschaftlich erfolgreicher als katholische, islamische undorthodox christliche Gesellschaften« da sie über mehr »dem Fortschritt zugeneigte wirtschaftliche Verhaltenswerte« verfügen. Soweit folgt er Max Webers Protestantischer Ethik. Die gute Neuigkeit, so Harrison weiter, ist, dass Institutionen Kultur verändern können. Sowohl die politische Führung in Ostasien hatte das Steuer herumgerissen – 1978 mit Deng Xiaopings Erklärung »Reich werden ist glorreich« – ebenso wie der richtige politische Wille in Irland, Spanien und Quebec, benachteiligt durch ihren Katholizismus, das Werteprofil ihrer Länder im Lauf weniger Jahrzehnte verändern konnte.

Ein solches Kulturverständnis ist tautologisch: Kultur ist ein Gefängnis, aber eines mit so viel Freigang, dass jeder entkommen kann. Wandel geschieht, weil er geschieht: Spaniens und Irlands Entwicklung, so gesteht auch Harrison, wurden sowohl vom Tourismus, als auch den Finanzspritzen der Europäischen Union massiv angetrieben. Welche Rolle spielt Kultur, wenn Daniel Etounga-Maguelle im Zuge seines Kulturanpassungsprogramms für Afrika sowohl das Schulwesen als auch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse reformieren möchte? Der Marshallplan, der Europa politisch und wirtschaftlich neu gestalten sollte, hatte auch weitreichende Konsequenzen für die Alltagskultur des Kontinents, niemandem wäre es aber in den Sinn gekommen, ihn als kulturelle Intervention zu bezeichnen.

Im heutigen Entwicklungszusammenhang wird »Kultur« jedoch oft als Synonym für alles »alte«, nicht-westliche und damit vermeintlich nicht-moderne verwendet und soziale und ökonomische Faktoren übersehen. Kultur spielt hier die Rolle des Steins im Märchen von der Steinsuppe: Wenn man genügend andere Zutaten dazu tun, wird sie schlussendlich ziemlich schmackhaft.

Obwohl sie Kultur überall sehen, blenden viele der neuen Kulturanpasser den Fakt aus, dass Menschen sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem gelungenen Leben hegen. Manche Anthropologen gehen sogar so weit zu behaupten, dass selbst eine hohe Lebenserwartung oder Gesundheit nicht unhinterfragt als universelle Werte angesehen werden können – dass das Versprechen als Brahmane wiedergeboren zu werden für manchen Inder wichtiger ist als eine erhöhte Lebenserwartung.

Auch wenn man nicht so radikal kulturrelativistisch argumentiert, sondern glaubt, dass der alte Sowjetwitz »Besser reich und gesund als arm und krank« universelle Gültigkeit beanspruchen kann, so hat eine relativistische Perspektive den Vorteil, dass sie sich bemüht herauszufinden, was die Menschen vor Ort, die »entwickelt« werden sollen, überhaupt wollen. Doch viel zu selten werden die Interessen und Bedürfnisse lokaler Bevölkerungen ins Zentrum der Entwicklungsarbeit gestellt. Stattdessen werden vermeintlich universelle Ziele postuliert und dann festgestellt, wie »Kultur« ihnen im Wege steht.

Zum Schluß noch ein Hinweis in eigener Sache: wenn Sie bis hier gelesen haben, könnten Sie sich auch für mein diese Woche herausgekommenes Buch Maxikulti interessieren, indem Pál Nyíri und ich der Frage nachgehen, welche Bedeutung kulturelle Unterschiede in unserer globalisierten Welt haben und welches kulturelle Know How von Nöten ist, um sich erfolgreich in ihr zurecht zu finden.