Zurück zu einer sachlichen Auseinandersetzung
Zurück zu einer sachlichen Auseinandersetzung
Unter dem Titel „Oder soll man es lassen?“ (https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra) wurde in der aktuellen Ausgabe der DIE ZEIT (29/2018 vom 12.07.2018) und ZEIT ONLINE ein „Pro und Contra“ veröffentlicht, in dem die Legitimität der zivilen Seenotrettung von Flüchtlingen und Migranten auf dem Mittelmeer diskutiert wurde. Als Reaktion auf den Beitrag wurde vielerorts Kritik geäußert, auf die Sabine Rückert und Bernd Ulrich als Mitglieder der Chefredaktion der ZEIT zunächst in einem Blog-Beitrag antworteten, in dem sie ihr Bedauern darüber äußerten, „dass sich einige Leser in ihrem ethischen Empfinden verletzt gefühlt haben, und dass der Eindruck entstehen konnte, die ZEIT oder auch Mariam Lau würden einer Seenotrettung generell eine Absage erteilen“. Gleichwohl bekräftigten sie aber ihre Sichtweise, dass es gerechtfertigt sei, die Berechtigung der privaten Seenotrettung auf dem Mittelmeer kritisch zu diskutieren und zu hinterfragen. In einem Twitter-Beitrag entschuldigte sich Bernd Ulrich später für die Wahl der Überschrift und gestand sie als Fehler ein, „weil sie unseren Ernst und Schmerz bei dem Thema nicht ausdrückt“.
Die inhaltliche Kritik fokussiert sich auf den Beitrag von Mariam Lau, die in dem Diskurs die Contra-Position einnimmt und die zivile Seenotrettung scharf kritisiert. In ihrem Artikel entwirft Lau drei Argumentationsstränge. Zuerst spricht sie der zivilen Seenotrettung die Berechtigung und Rechthaftigkeit ab, dann sucht sie die Helfer als irrationale Gutmenschen, die mit einer einseitigen Weltsicht und falschen Argumenten hantierten, zu diskreditieren und zu diffamieren und entwirft zuletzt eine apokalyptische Zustandsbeschreibung der Länder und Regionen, die in den vergangenen Jahren Flüchtlinge und Migranten aufgenommen haben, und sie schürt bereitwillig die Angst vor einer Masseninvasion. Eine solche Argumentation ist unredlich, falsch und gefährlich, da sie rechten Kräften das Wort redet und einer fremdenfeindlichen Stimmung Vorschub leistet.
Der Tonfall und die Wortwahl des Textes sind flapsig, schon der Einstieg hat einen sarkastischen Beiklang und wird damit dem Ernst des Themas nicht gerecht. Mit einer unpassenden Analogie sucht die Autorin zu belegen, dass es falsch sei, dass zivile Organisationen in Bereichen einspringen, die eigentlich staatliche Aufgaben seien, von den Staaten aber vernachlässigt werden. Sie versteigt sich zu der absurden Aussage, das Ertrinken im Mittelmeer sei „ein politisches Problem, zu dessen Lösung die private Seenotrettung null und nichts beizutragen hat.“ Auf diesen Hohn, diesen blanken Unsinn fällt es schwer sachlich zu reagieren. Einer solchen Argumentation folgend wären die Opfer von Verkehrsunfällen aufgrund überhöhter Geschwindigkeit oder Raserei ebenfalls lediglich ein „politisches Problem“, zu dessen Lösung der Rettungsdienst, Ärzte und medizinisches Fachpersonal nichts beizutragen hätten. Ergo, wer rast und einen Unfall verursacht hat selber Schuld und kann keine Hilfe erwarten – genauso dürfen, ja sollten wir die Flüchtlinge und Migranten auf dem Mittelmeer, die selbstverschuldet in Not geraten, sich selbst und ihrem Schicksal überlassen. Nähmen wir eine solche Argumentation an, wäre dies ein großer Schritt in Richtung Barbarei. Würden wir eine solche Sichtweise akzeptieren, opferten wir unsere Humanität und Mitmenschlichkeit einer hartherzigen Ignoranz. Solidarität und Mildtätigkeit sind charakteristische und bindende Elemente des Gemeinwohls unserer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften. Lehnen wir wohltätigen Beistand und bedingungslose Hilfeleistung für Menschen in höchster Not, ja in akuter Lebensgefahr mit dem Verweis auf Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten anderer Strukturen ab, führt dies zu einer Aushöhlung der Wertgrundsätze unserer Gesellschaft und wir gefährdeten so den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Während Lau den zivilen Rettungsorganisationen und ihren Mitstreitern und Aktivisten einen rationalen, sachlichen Umgang mit der Thematik abspricht, ist sie vielmehr diejenige, die im Furor ihrer Philippika vom Pfad einer differenzierten und vorurteilsfreien Argumentation abkommt. Sie hantiert einerseits mit Verallgemeinerungen („In Ihren Augen gibt es nur Retter und Abschotter; sie kennen kein moralisches Zwischenreich.“) und Unterstellungen gegenüber Hilfsorganisationen und den Helfern („Statt die afrikanischen Regierungen, wie die NGOs es tun, dabei von jeder Verantwortung freizusprechen…“) und überhöht andererseits – im Tonfall ironischer Bissigkeit – die Moralität von Organisationen wie Frontex („Auch die europäische Grenzschutzorganisation Frontex ist der Feind – was umso verlogener ist, als es sehr oft Frontex-Schiffe waren und sind, die den privaten Rettern zu deren großer Erleichterung die Flüchtlinge, die sie im Laufe von Tagen aufgegriffen haben, abnehmen, um sie nach Europa zu bringen.“).
Niemand verlässt seine Heimat freiwillig und begibt sich auf die lebensgefährliche und beschwerliche Flucht in den Händen von Schleusern und Menschenhändlern durch mehrere Länder, durch die Sahara, in der ebenfalls viele Menschen den Tod finden, und schließlich auf das Mittelmeer, oft ohne überhaupt schwimmen zu können und ohne Schwimmwesten auf überladenen und hochseeuntauglichen Booten, nur weil womöglich zivile Retter sie auf dem Weg retten würden. Es gibt zudem keine validen Daten, die belegen würden, dass die Anwesenheit (ziviler) Rettungsschiffe einen Anstieg der Fluchtversuche über das Mittelmeer zur Folge hat. Vielmehr gibt es klare Hinweise darauf, dass die Behinderung der zivilen Seenotrettung und die Verweigerung staatlicher Strukturen, diese Seenotrettung zu leisten, den Tod tausender Menschen, darunter auch Kinder, zur Folge hat. Seit der nahezu vollständigen Verhinderung der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer durch die italienischen und maltesischen Regierungen und mit offensichtlicher Billigung anderer EU-Staaten ist die Zahl der Todesfälle auf dem Mittelmeer stark angestiegen. Im Juni 2018 sind mindestens 629 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben – noch nie war die Zahl im Juni so hoch wie in diesem Jahr.
Wie auch andere Kommentatoren – diese kommen jedoch überwiegend vom rechten Rand – entwirft Lau ein Zerrbild der gesellschaftlichen Folgen einer humanen und liberalen Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik, und verweist hierfür auf das verbreitete Elend der Flüchtlinge auf den Straßen, das jedem schon bei einem „Spaziergang durch Rom […] eines Besseren belehren“ müsste, und redet so fremdenfeindlichen Stereotypen das Wort. Sie unterstellt den Helfern eine unangebrachte moralische Kompromisslosigkeit, die die „Nebenwirkungen gut gemeinten Handelns“ ignoriere und sie reiht sich damit ein in die Gesellschaft vermeintlich realpolitischer Meinungsbildner, die davon überzeugt sind, dass nur eine massive Grenzsicherung und restriktive Asyl- und Einwanderungspolitik an den Außengrenzen der Europäischen Union den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt und die innereuropäische Freizügigkeit aufrechterhalten werden. Leider übersehen diese Meinungsbildner, dass sie sich damit zu willfährigen Wasserträgern Viktor Orbáns, Jarosław Kaczyńskis oder Matteo Salvinis machen, denen sie sich eigentlich entgegenstellen wollen.
Gewiss, eine kritische Diskussion der Rolle der privaten Seenotrettung von Flüchtlingen und Migranten auf dem Mittelmeer ist legitim und geradezu die Aufgabe seriöser Medien. Hierbei gilt es jedoch, auch die Rolle humanitärer Hilfe und der Hilfsorganisationen als wichtiges gesellschaftliches Element, Bindeglied und Korrektiv zu würdigen und zu akzeptieren. Freiheitliche demokratischen Gesellschaften leben von Toleranz und Solidarität, Offenheit und kontroversem Meinungsaustausch. Ein sachlicher, humaner und verantwortungsbewusster Diskurs ist hier entscheidend mitverantwortlich für einen stabilen gesellschaftlichen Zusammenhalt und die nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung.
Dr. Alexander Supady
RESQSHIP e.V.